Erreichbarkeit

Analyse des Problems

Mobilitätsprobleme werden versucht, sektoral und technologisch zu lösen. Beispiele sind die Förderung der E-Mobilität zur Reduzierung der CO2-Emissionen, die bessere Trennung von Radwegen und Straßen zur Vermeidung von Verkehrsunfällen und die Entwicklung von Mobility as a Service (MaaS)-Plattformen, um den Autofahrer zum Umstieg auf nachhaltige Verkehrsmittel zu bewegen. Trotz dieser Maßnahmen ist die durch den Verkehr verursachte CO2-Menge in Deutschland und Europa kaum gesunken, es gibt kaum weniger Verkehrsunfälle und auch die Zahl der innerstädtischen Staus hat nicht abgenommen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass diese sektoralen Maßnahmen nicht die eigentliche Ursache des Problems angehen. Das ist der immer größer werdende Bedarf an Mobilität. Die Politik kann die Autoemissionen um 20 % reduzieren, aber wenn die Menschen sich um 20 % mehr bewegen, gibt es keinen Gesamtgewinn. Der ständig steigende Bedarf an Mobilität wird durch die Zersiedelung der Landschaft (Urban Sprawl) verursacht. Die Urban Sprawl ist gekennzeichnet durch die Entwicklung von monofunktionalen Gebieten mit geringer Dichte, in der Regel an den Rändern der Städte, aber es handelt sich auch um eine zunehmende Monofunktionalität in städtischen Gebieten. Typisch für die Zersiedelung sind große Wohngebiete, große Supermärkte mit Parkplätzen, Einkaufszentren, Industriegebiete, Geschäftsviertel und Pendlerverkehr. Vergrößerung und Monofunktionalität sind bei der Zersiedelung stark miteinander verbunden. Die Urban Sprawl manifestiert sich immer mehr in ganz Europa, insbesondere in Deutschland und Berlin. Ein Beispiel dafür ist die Flucht der Berliner in die Städte und Dörfer des Speckgürtels.

Urban Sprawl und Automobilität sind stark miteinander verknüpft, und in einem Teufelskreis verstärkt das eine das andere. Je schneller die Mobilität wird und Menschen eine Strecke in einer bestimmten Zeit zurücklegen können, desto mehr Menschen entscheiden sich, weiter weg zu ziehen. Die Theorie, die dahinter steckt, ist im Brever-Gesetz definiert, das besagt, dass ein Mensch immer einen nahezu konstanten Anteil seiner Zeit mit Reisen verbringt. Auch der öffentliche Verkehr kann, zwar in geringerem Maße, ein Auslöser für die Zersiedelung sein, vor allem, wenn es sich um Metropolregionen handelt.

Die Lösung: Fokus auf Erreichbarkeit

Um ganzheitliche Lösungen für die aktuellen Probleme zu entwickeln, ist es wichtig, die Politik zu ändern. Nicht die Stimulierung von mehr Mobilität, sondern die Stimulierung von besserer Erreichbarkeit (Transport Accessibility) sollte im Mittelpunkt stehen. Erreichbarkeit bezieht sich auf die Einfachheit des Erreichens von Gütern, Dienstleistungen, Aktivitäten und Zielen, die zusammen als Opportunität bezeichnet werden. Während in der Mobilitätspolitik die Erhöhung der Mobilität ein Ziel an sich ist, wird in der Erreichbarkeitspolitik die Mobilität als ein Mittel gesehen, um ein bestimmtes Ziel (eine Opportunität) zu erreichen. Aber eine Erhöhung der Mobilität ist nicht immer vorteilhaft für die Erreichbarkeit als Ganzes.  Kurz gesagt, der Unterschied zwischen den beiden Paradigmen ist: Mobilität ist, wie weit man in einer bestimmten Zeitspanne fahren kann. Erreichbarkeit ist, wie viele Ziele man in dieser Zeit erreichen kann.

Erreichbarkeit ist kein neues Konzept, sondern bereits seit einigen Jahren ein Thema der Forschung. Die Herangehensweise an das Thema Erreichbarkeit ist jedoch oft sehr quantitativ und kann in die Irre führen und zu falschen Strategien und Maßnahmen führen. Bei der Anwendung der einfachen quantitativen Formel für Erreichbarkeit (Erreichbarkeit = Geschwindigkeit / Entfernung) könnten politische Entscheidungsträger denken, dass eine Erhöhung der Geschwindigkeit automatisch zu einer höheren Erreichbarkeit führt. Dies mag auf kurze Sicht zutreffen. Aber wie bereits erklärt, sind diese beiden Variablen (Geschwindigkeit und Entfernung) voneinander abhängig.  Langfristig wird diese Erhöhung der Geschwindigkeit automatisch zu einer Urban Sprawl und einer geringeren Erreichbarkeit führen, nur mit schwerwiegenderen gesellschaftlichen Folgen (CO2-Emissionen, Straßen, die die Artenvielfalt zerstören, Autoabhängigkeit, Übergewicht), sozialer Zersplitterung der Städte, usw. usw.).

Unsere Empfehlungen

  • Als Schöne Städte e.V. empfehlen wir, die Negativspirale von steigenden Entfernungen und zunehmender Mobilität in eine Positivspirale von sinkenden Entfernungen und abnehmender Autoabhängigkeit umzuwandeln. Wenn die Entfernungen und die Mobilität abnehmen, nutzen die Bürger automatisch mehr das Fahrrad und gehen zu Fuß, um von der Autoabhängigkeit wegzukommen.
  • In der aktuellen Situation wird ein eher quantitativer Ansatz für die Erreichbarkeit angewandt, bei dem oft Karten als Werkzeug verwendet werden, um die aktuelle Erreichbarkeit innerhalb einer bestimmten Zeit zu zeigen. Es gibt einen positiven Trend hin zu einem quantitativen Ansatz, der mehr auf das Radfahren und Zu-Fuß-Gehen ausgerichtet ist, wie z.B. das Projekt Open Accessiblity der Technischen Universität München oder die EU-weite Studie „How many people can you reach by public transport, bicycle or on foot in European cities? Measuring urban accessibility for low-carbon modes“. Wir erkennen jedoch an, dass ein eher qualitativer Ansatz für die Erreichbarkeit angewandt werden muss, der sich auf die Themen im Bild konzentriert. Das bedeutet, dass, anstatt beispielsweise zu analysieren, wie weit der „Tennisclub“ zu Fuß oder mit dem Fahrrad in Minuten entfernt ist, die Fragen zum Beispiel lauten könnten: Sind die Straßen sicher für Radfahrer, die nachts mit Licht laufen (Bequemlichkeit), gibt es sichere Fahrradanlagen am Tennisclub (Mobilität), gibt es eine Kultur des Radfahrens im Tennisclub, so dass alle Clubmitglieder nach dem Tennismatch mit dem Fahrrad statt mit dem Auto in eine Bar fahren (soziale Akzeptanz), ist der Tennisclub für die Menschen in der Gegend bezahlbar, oder müssen sie aufgrund der Preisgestaltung in einen weit entfernten Tennisclub gehen ( Bezahlbarkeit) usw.

  • Wir empfehlen, dass der derzeitige Fokus der öffentlichen Politik auf das Wachstum des Mobilitätssektors, auf Geschäftsmodelle und technische Innovationen im Bereich der Mobilität gestoppt wird. Diese Geschäftsmodelle und technischen Innovationen haben nicht das Ziel, die Lebensqualität der Bürger zu erhöhen oder die städtische Lebensumgebung lebenswerter zu machen. Ihr Hauptziel ist es, Geld zu verdienen, indem sie die Nutzung ihres Produkts und die Entfernungen erhöhen. Wir empfehlen einen Politikwechsel hin zu sozialen Innovationen, bei denen das Verhalten sowie die Bedürfnisse der Bürger und der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Öffentliche Projektförderung wird nicht auf Basis des wirtschaftlichen Wachstumspotenzials einer Idee belohnt, sondern auf Basis ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen und Ergebnisse (Outcomes Funding).
  • Der Bereich der Verkehrserreichbarkeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Analyse und Bereitstellung von Instrumenten für öffentliche Politiker. Wir schlagen jedoch vor, einen normativen Rahmen (Soll-Zustand) durch ein offenes Innovationsnetzwerk im Bereich der Verkehrserreichbarkeit zu entwickeln. Dieser normative Rahmen könnte zum Beispiel beinhalten, wie man mit der Erreichbarkeit von Schulen, Universitäten, Geschäften umgeht und wie man attraktive, multifunktionale Wohnumgebungen schafft. Dieser normative Rahmen muss eine Vision beinhalten, wie inklusive Erreichbarkeit erreicht werden kann. Instrumente, die verwendet werden können, sind Projektfinanzierung oder Gesetze, die die Entwicklung monofunktionaler Bereiche verbieten, wie z. B. Einkaufszentren, oder Gesetze, die die maximale Größe einer Einrichtung festlegen (z. B. die maximale Größe eines Baumarktes).